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erste Frühlingsboten, Frühlingsgeschichte, Krokus und Veilchen
Opa, Timo und die Frühlingskinder
„Gestern habe ich den Frühling gesehen. Er huschte übermütig durch den Garten und zupfte mal hier, mal da. Ich habe ihn gefragt, was er da macht, aber ich bekam keine Antwort. Als ich ihn nämlich ansprach, verschwand er, schnell wie der Wind!“, erzählte Opa seinem Enkel Timo.
„Den Frühling hast du gesehen? Den kann man doch gar nicht sehen!“, behauptete Timo. Er war ein bisschen verärgert, weil Opa ihn schon wieder mal auf den Arm nehmen wollte. Aber dieses Mal würde es ihm nicht gelingen. Das wäre ja noch schöner!
„Wie sah er denn aus, dein Frühling?“, fragte er und in seiner Stimme schwang ein lauernder Ton mit.
„Es ist nicht mein Frühling, es ist auch deiner!“, meinte Opa. „Es war ja nur ein kurzer Augenblick, aber ich erinnere mich, dass er eine gelbe Latzhose trug und grüne Gummistiefel und ja, er hatte blonde Locken.“
„War es denn etwa ein Mädchen? Wegen der blonden Locken, meine ich.“, fragte Timo.
„Gibt es nicht auch Jungen mit blonden Locken? Ich vermute, dass es ein Junge war, aber sicher bin ich nicht!“, stellte Opa fest. „Geh doch selbst mal nachschauen, vielleicht triffst du ihn ja auch, den Frühling!“
„Ich wollte sowieso gerade nach draußen, frische Luft tanken, dann kann ich ja mal gucken!“ Er glaubte Opa nicht, wusste doch jeder, dass der Frühling wie eine Fee aussah mit einem weiten, bunten Umhang, goldenen Haaren, einer Krone und einem warmen Lächeln und so; jedenfalls bestimmt nicht wie ein Junge oder Mädchen. Timo zog Jacke, Mütze und Stiefel an und stapfte in den Garten hinaus. Man konnte nie wissen, ob Opa vielleicht doch recht haben könnte. Aufmerksam schlenderte er durch den Garten, blickte hinter jeden Strauch und sogar in den verwaisten Hühnerstall. Dann suchte er in den Blumenbeeten und plötzlich stutzte er. Gelb blinkte es ihm zwischen den verdorrten Herbstblättern aus zu. Gelb und grün. Ein kleines Gelb und ein kleines Grün. Die Farben des Frühlings, aber doch viel zu klein für ihn. Der Frühling, überlegte sich Timo, der musste doch viel größer sein. Groß und schlank und zauberhaft. Nicht winzig klein unter alten Blättern verborgen. Er musste sich auch nicht verstecken, gerade, wo doch alle schon auf ihn warteten!
Timo schnupperte, irgendwie roch es plötzlich so anders. War das etwa der Frühling, der so duftete? Er beugte sich zum kleinen Gelb und Grün hinunter schnupperte wieder; und als er sein Gesicht so nah am Boden hatte, sah er viele Gelbs und Grüns und sogar ein Lila und es duftete so schön wie Mamas Blütenparfüm, nur noch besser.
„Wer seid ihr?“, flüsterte er voller Andacht.
„Frühlingskinder“, wisperten viele Stimmchen. „Sieht man doch! Wir sind die Boten des Frühlings. Aber noch kann nicht jeder uns sehen.“
„Ich sehe euch. Ein bisschen. Eure Farben sehe ich. Und euren Duft rieche ich.“ Timo war ganz aufgeregt.
Er erhob sich, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um nicht am Ende noch eines der zarten Frühlingskinder zu zertreten. Als er auf dem gepflasterten Weg zum Haus ankam, rannte er glücklich, so schnell er konnte, ins Haus.
„Opa, du hattest recht!“, rief er freudig. „Der Frühling war da und er hat ganz viele Frühlingskinder in unserem Garten untergebracht!“
Opa schmunzelte. Wusste er doch, dass sein Junge einen Blick für das Schöne hatte. Vielleicht hatte er ihm das vererbt, wer weiß?
© Regina Meier zu Verl