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Dicke Clownstränen

„Heute bin ich einmal nicht ich!“, kündigt Oma an. Das klingt komisch, aber wenn man, wie ich, die Oma schon acht Jahre kennt, dann ist das nicht mehr komisch. Sie macht das ganz oft. Sie sagt diesen Satz und dann geht die Verwandlung los. Heute zieht sie die gelben Schuhe und bunte Hosenträger an. Dann malt sie mit Lippenstift rote Kreise auf ihre Wangen und verreibt sie ein wenig. Auch die Lippen schminkt sie, aber nicht schön auf der Linie, sondern weit über die Lippenlinien hinaus. Sie wirft ihre Haare nach vorn, kämmt kurz durch und macht sich dann einen Zopf mitten auf dem Kopf. Jetzt fehlt nur noch die rote Clownsnase, dann ist sie fertig, die Clownin Wilhelmine.
„Willst du auf eine Karnevalsparty gehen, Oma?“, frage ich sie und kenne die Antwort längst.
„Natürlich nicht, ich mag keinen Karneval!“, sagt sie und setzt ihre Herzbrille auf. Die hat sie sich extra anfertigen lassen beim Optiker Oppermann.
„Wenn schon, denn schon!“, hat sie gesagt. Was sie damit gemeint hat, weiß ich nicht so genau, aber was soll’s, sie sieht toll aus, meine Oma, und wenn mich nicht alles täuscht, dann will sie ins Altenheim.
„Darf ich mitgehen?“, frage ich sie und heute bekomme ich eine andere Antwort als erwartet.
„Ja, komm mit! Sag schnell deiner Mutter Bescheid“, sagt Oma. Mama und ich wohnen oben im gleichen Haus wie Oma. Ich flitze schnell hoch und hole mir Mamas Einverständnis. Im Nu bin ich wieder bei Oma.
„Du musst dich dann aber auch verkleiden!“, bestimmt sie und sucht in ihrer Kramschublade nach einer weiteren Clownsnase und Hosenträgern. Auch ich bekomme einen riesigen geschminkten Mund und rote Wangen, und an meine Brille, die ich sowieso trage, bindet Oma an jede Seite eine bunte Schleife. Das sieht lustig aus und ich fühle mich ganz wohl in der Verkleidung.
Mit Theo, so heißt Omas kleines Auto, fahren wir los. Ich wundere mich, warum wir unsere Stadt verlassen. „Gibt es denn hier kein Altenheim?“, will ich wissen.
„Doch, sicher. Altenheime gibt es in jeder Stadt, meist sogar mehrere. Ich fahre aber immer gern in Orte, wo man mich nicht kennt. Das gefällt mir viel besser, denn dann kann ich einfach die Clownin Wilhelmine sein und keiner fragt mich nach meinem Mann, oder nach der Arbeit, oder nach Frau Sowieso und ob die denn immer noch lebt“, sagt Oma.
Jetzt muss ich aber lachen. Gibt es echt Menschen, die so unverschämte Fragen stellen? Das kann ich gar nicht glauben. Aber wenn Oma das sagt, dann wird das ja so sein.
„Was lachste?“, fragt Oma prompt.
„Ach, ich wundere mich, dass es Leute gibt, die so gemeine Fragen stellen wie: Lebt die denn immer noch?“, antworte ich und schäme mich ein bisschen, denn zum Lachen ist das ja eigentlich gar nicht. Ich bin ein bisschen nachdenklich geworden und mit einem Mal bin ich richtig traurig.
„Da hast du recht, aber glaub mir, solche Leute gibt es wirklich – sind aber nicht so viele, die meisten sind in Ordnung!“, versichert mir Oma und schaut mich von der Seite an.
„Hey, du musst jetzt aber nicht traurig sein!“, sagt sie, als sie die dicke Träne bemerkt, die über meine rot geschminkte Wange rollt. Als ich sie wegputzen will, verschmiere ich die rote Farbe und dann putze ich zu allem Überfluss die Farbe in meinem hellblauen Anorak ab. Das sieht nicht schön aus, sicher gibt’s ein Donnerwetter, wenn Mama das sieht.
„Oh weia!“, rufe ich und nun kullern die Tränen noch heftiger. Oma fährt rechts ran und holt ein Taschentuch aus dem Handschuhfach. Damit tupft sie meine Tränen ab und wischt vorsichtig an der Wangenfarbe, doch da ist nichts mehr zu retten.
„Ist nicht schlimm!“, sagt Oma. „Wir holen uns jetzt ein dickes Stück Kuchen und dann fahren wir nach Hause. Da stecken wir die Jacke in die Waschmaschine und schon ist alles wieder gut!“
„Aber…“, sage ich, „Wir wollten doch …“
„Das läuft uns nicht weg. Wir fahren eben morgen zum Altenheim, ich rufe schnell dort an, damit die Pfleger Bescheid wissen und dann machen wir es uns gemütlich, oder?“
Das machen wir dann auch. Der Anorak kommt blitzsauber aus der Waschmaschine und ist schnell trocken. Mama merkt gar nichts und Oma hält dicht, so ist sie eben und morgen nehmen wir einen neuen Anlauf.

© Regina Meier zu Verl

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